Die Realität im einundzwanzigsten Jahrhundert beunruhigt. Die einfache Tatsache, in irgendeiner Weise anders zu sein, wird als etwas Böses definiert. Warum macht uns das Fremde zu schaffen und wie können wir als Christ:innen glaubwürdig damit umgehen? Johannes Stahl hat seinen ehemaligen theologischen Lehrer Dr. Miroslav Volf befragt.
„Mein Auslandsstudium liegt ein Vierteljahrhundert zurück, damals in den USA begegnete mir Dr. Miroslav Volf, ein Europäer mit kroatischen Wurzeln. Volf ist inzwischen Professor in Yale und hat seine Thesen von Ausgrenzung und Umarmung, die mich in den 90ern gepackt haben, ausgereift und differenziert. Geboren aus der persönlichen Erfahrung einer tödlichen Unversöhnlichkeit in Serbien und Kosovo vertritt Volf die Ansicht, dass christliche Theologie Wege finden muss, um sich mit dem Hass auf Andere auseinanderzusetzen. Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?
Gibt es eine Hoffnung, unsere Feinde zu umarmen?
Indem Volf auf die neutestamentliche Metapher der Erlösung als Versöhnung zurückgreift, schlägt er die Idee der Umarmung als theologische Antwort auf das Problem der Ausgrenzung vor. Er sagt: „Wir stellen zunehmend fest, dass die Ausgrenzung zur Hauptsünde geworden ist, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Angesichts dessen müssen Christen lernen, dass das Heil nicht nur dann kommt, wenn wir mit Gott versöhnt sind und nicht nur dann, wenn wir lernen, miteinander zu leben. Gottes Heil kommt, wenn wir den gefährlichen und kostspieligen Schritt tun, uns dem anderen zu öffnen, sie oder ihn in die gleiche Umarmung einzuschließen, mit der wir von Gott umarmt wurden.“
Identitätszentrierte Konflikte innerhalb und zwischen den Nationen waren lediglich Strömungen im großen Strom der globalen Integrationsprozesse und der Ausbreitung der globalen Monokultur – so dachten wir am Ende des letzten Jahrtausends. Aber die Welt ist nicht mehr geeint, und der Widerstand gegen die Globalisierung kommt nicht mehr nur von Randgruppen und kleineren Nationen. Aber auch, weil die Globalisierungsprozesse eine Spur des Leids und der Orientierungslosigkeit hinterlassen haben, die sich am deutlichsten in den außerordentlichen Diskrepanzen von Reichtum und Macht zwischen und innerhalb der Nationen der Welt, der fortschreitenden ökologischen Zerstörung und dem Verlust des Gefühls kultureller, religiöser und nationaler Identität und Kontrolle zeigt.
Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“
Nationale, ethnisch-kulturelle, religiöse, rassische, geschlechtliche und sexuelle Identitäten sind heue wesentliche Triebkräfte der Politik. Bei der Wahlkampagne „Make America Great Again!“, die Donald Trump ins Weiße Haus brachte, ging es vor allem um Identität, um die Wahl zwischen einem weißen, „jüdisch-christlichen“, nationalistischen Amerika und einem pluralistischen Amerika, in dem Gruppen mit unterschiedlichen, dominanten Identitäten unter einem Dach zusammenleben. Bei den extremen Rechten geht es um Identität.
Religionen haben immer auch ein Identitätsanliegen, aber sie werden oft mit anderen Identitäten und Interessen verbunden. Zwei Varianten des Christentums, der Katholizismus und die Orthodoxie, waren zusammen mit dem Islam der Grund für den Krieg zwischen ethnischen Gruppen im ehemaligen Jugoslawien, als Volf sein Buch „Ausgrenzung und Umarmung“ schrieb. In identitätszentrierten Kämpfen fungieren Religionen in der Regel als Marker für Gruppenidentitäten und als Werkzeuge im Dienst politischer Kräfte, die als Hüter dieser Identitäten auftreten. Sie verlagern den Konflikt in den Bereich des Sakralen und erhöhen seine Brisanz.
Die Praxis der Umarmung ist eine Dimension des wahren Lebens, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde.
Das ist schlecht für die Welt und für die Religionen selbst. In ihren Ursprüngen und in ihren besten historischen Ausprägungen sind alle Weltreligionen universelle Religionen, die jeden Menschen als menschliches Wesen ansprechen.
In der europäischen Neuen Rechten – „génération identitaire“ in Frankreich, „identitäre Bewegung“ in Deutschland und Österreich, „generation identity“ in Großbritannien – sieht Volf die einflussreichste politische Identitätsbewegung im Westen. Sie ist auch philosophisch eine der Anspruchsvollsten. Die Vertreter der europäischen Neuen Rechten lehnen nicht nur die angebliche Dekadenz und Leere der westlichen Kultur ab, sondern auch den Kapitalismus und das Primat der instrumentellen Vernunft, von denen man annimmt, dass sie dieser Dekadenz und Leere zugrunde liegen. Doch der Hauptfeind dieser Identitären sind die kosmopolitischen, multikulturellen und liberalen Globalisten. Sie sind es, die Europas Tore weit geöffnet haben für das, was der französische Schriftsteller und Polemiker Camus Renaud „Gegenkolonisation“, „die große Dekulturation“ oder „die große Ablösung“ nennt. Drei Begriffe für die Vorstellung, dass Menschen aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika, die meisten von ihnen Muslime und alle nicht weiß, allmählich die weiße Mehrheit Europas, die Träger der christlich geprägten Zivilisation, ersetzen.
Die meisten europäischen Identitären sind Christen, oft junge, konservative Katholiken; selbst die Atheisten unter ihnen bestehen auf dem christlichen Charakter des säkularen Westens. Ihr Motto lautet: „Europa wird entweder christlich sein oder es wird aufhören zu sein“. Wenn es jedoch um den Inhalt ihrer gesellschaftlichen Vision geht, ist der christliche Glaube, den die europäischen Identitären ebenso wie ihre Pendants in Amerika und Russland für sich beanspruchen, zu einem sakralisierten Identitätsmerkmal und einem Werkzeug in politischen Kämpfen ausgehöhlt worden.
Die Identität eines Menschen als „Ebenbild Gottes“ und „Kind Gottes“ wird bei Caroline Sommerfeld, einer führenden Philosophin der Neuen Rechten, in andere Identitäten eingepasst und nicht umgekehrt. Wir sind in erster Linie Mitglieder unserer ursprünglichen Gemeinschaft – Heimat, geografische Region usw. – und erst in zweiter Linie Mitglieder der vielfältigen menschlichen Gemeinschaft oder der Kirche, dem einen Volk Gottes, das viele Sprachen spricht. „Zuerst kommt der Schoß der Mutter, das Haus des Vaters, das Dorf, die Gegend, das Land, der Nationalstaat, zuletzt die Menschheit“, schreibt Caroline Sommerfeld.
In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht es Volf um Identität, aber er ist nicht identitär.
… dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist.
Für Volf ist die Praxis der Umarmung und die Theologie, die sie untermauert, eine Dimension des wahren Lebens, eine Art von Leben, das durch Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ermöglicht wurde. Das Bekenntnis zu Christus als dem wahren Leben steht im Gegensatz zu der Vernachlässigung dessen, was in den hyperindividualistischen, marktorientierten Gesellschaften der Gegenwart am wichtigsten ist.
Volf hält fest: „Gottes unveränderliche und bedingungslos liebende Beziehung zu allen Menschen (Johannes 3,16) begründet deren gemeinsames Menschsein und Gleichheit. Der eine dreieinige Gott ist der Gott aller Menschen, von denen jeder ein einzigartiges und dynamisches Geschöpf einer bestimmten Zeit, einem Ort und einer Kultur ist.
In „Ausgrenzung und Umarmung“ geht Volf von einer solchen Darstellung des Charakters und der Herkunft der gemeinsamen Menschheit aus. Der Strang über identitätszentrierte Konflikte beruht auf der Überzeugung, dass die Feindesliebe, die in Gottes Umarmung der sündigen Menschheit in Christus zum Ausdruck kommt, für den christlichen Glauben und das Leben in der Welt von grundlegender Bedeutung ist: Die Unbedingtheit der göttlichen Liebe erfordert und ermöglicht die entsprechende Unbedingtheit der menschlichen Liebe.
Die Hauptthese von Volf ist folgerichtig: Der Wille, uns anderen hinzugeben und sie „willkommen“ zu heißen, geht jedem Urteil über andere voraus.
Miroslav Volf ist gebürtiger Kroate und Professor für Systematische Theologie an der Divinity School der Yale Universität in New Haven, Connecticut. Sein Werk „Exclusion & Embrace“ gilt „Christianity Today“ als eines der 100 besten religiösen Bücher des 20. Jahrhunderts und wurde 2002 mit dem Louisville Grawemeyer Award in Religion ausgezeichnet.